Feuer – Kunstaktion im Polarkreis, Island – 2006
Von der verwandelnden Kraft des Feuers – die Metamorphose als künstlerisches Prinzip in Rudolfs Reiters bildnerischem Werk.
Als der Prophet Moses groß war, tötete er einen Ägypter, der einen Hebräer umgebracht hatte. Moses floh daraufhin aus Ägypten. Da erschien ihm Gott in einem brennenden Dornbusch und befahl ihm, nach Ägypten zurückzukehren und sein Volk aus der Knechtschaft zu befreien. Innere Umkehr und Freiheit für die Menschen fordert dieser zentrale Text aus dem Alten Testament. Gott erscheint darin im Feuer und erinnert den Mann daran, dass es noch etwas anderes im Leben gibt als Überlebenskampf. Moses erschreckt das unerwartete Feuer, ein metaphorisches Bild dafür, dass der Mensch Grundlegendes erkennt. Folglich wird Moses sein Volk durch das Wasser in Freiheit führen. Den Weg in das gelobte Land als innere Umkehr eines Menschen (griech. Metanoia) markieren in der Bibel die Elemente Wasser und Feuer.
Feuer und Wasser, Erde und Luft, die vier Elemente des Lebens bewegen seit Jahrtausenden das Denken von Dichtern und Philosophen. Diese Kräfte der Natur bestimmen seit zehn Jahren auch die künstlerischen Arbeiten von Rudolf Reiter. Denn am 11. September 1995 hat ein Feuer apokalyptischen Ausmaßes Reiters Erdinger Atelier samt Haus in Schutt und Asche gelegt. Urplötzlich hatten sich Bilder, Farben, Malmaterialien und das Inventar entzündet. Nach dem Feuersturm war das Haus der Familie unbewohnbar.
Damals begann der Künstler seine Arbeit im Atelier wie jeden Morgen. Mit einem meditativen Ritual, bei dem er erst seinen gusseisernen Ofen beheizt und dann klassische Musik auflegt. Gewöhnlich treffen zu dieser Zeit seine drei Assistenten ein. Sie helfen ihm beim Schütten seiner Informell-Malerei.
Zwei Bilder waren an diesem Tag bereits fertig gestellt, als die Tochter einer der drei Männer eine Stärkung vorbeibrachte. Zu deren Glück. So standen alle drei vor dem Haus. Nur Reiter gestaltete unweit des Türrahmens. Er arbeitete an dem dritten erst halbfertigen Gemälde, als ein Funkenschlag sekundenschnell den Atelierraum in Flammen setzte. Mit einem Sprung rettete er sich aus der lodernden Gefahrenzone. Aber seine Latzhose hatte Feuer gefangen. Beherzt rissen ihm seine Assistenten das brennende Stück vom Leib. Für das Atelier dagegen kam jede Hilfe zu spät. Ein Schock für die Familie. Dann fand der Künstler unter der Asche auf einer Spannplatte einen heilen Schriftzug: „Victoria“, den Namen der weiblichen Hauptfigur aus dem gleichnamigen Roman von Knut Hamsun. Seine literarische Lieblingsgestalt, für er über viele Jahre hinweg ein reiches Bilderwerk schuf und bis hinauf nach Norwegen sehr bekannt wurde. Ein kleines Glück. Doch die urgewaltige Zerstörung des Familienhauses saß tief. Aus dieser Krise heraus besann sich Reiter auf die Kräfte der Natur. „Ein Ruckeffekt für mich“, so erzählt der 62-Jährige heute. Denn bis dahin oszillierten Reiters Arbeiten zwischen informellen Bildfindungen und sanften Stimmungen im Stil der romantischen Moderne. Aus dieser Erfahrung des naturhaften Überwältigtwerdens entwickelte der Künstler neue Ideen für Skulpturen und einen vierteiligen Zyklus zu den vier Elementen Erde, Wasser, Luft und Feuer. Die erlebte Kraft des Feuers führte wie von selbst zum Thema „Metamorphosen in der Spannung von Kunst und Natur“.
„Zeit der Wandlung und Wiederkehr“
In der Biologie beschreibt der Begriff Metamorphose den Wandlungsprozess in der Entwicklung der Insekten von der Larve bis zur erwachsenen Form. Die Bedeutung übertrug Reiter auf sein eigenes künstlerisches Tun. Welche Wandlungsprozesse in der Form, so überlegte Reiter, erwirkt die Natur bei Gemälden. Wie verändert sich die Form eines Bildes unter dem Einfluss der Wirkmächte von Erde, Wasser, Luft und Feuer? Oder anders gesagt, können „an das Licht der Welt gebrachte“ Bilder erwachsen werden? Welche Spuren hinterlassen die Kräfte der Natur? Rudolf Reiter startete mit Erdbildern im Münchner Olympiapark (1995). Mit einer Wasseraktion im Atlantik (1998) und Luft (1998). Der Zyklus „Zeit der Wandlung und Wiederkehr“ wird mit dem „Feuer“ vulkanischen Ursprungs auf Island im Sommer 2006 vollendet. Für die Elemente Erde und Luft wählte Reiter künstlich gestaltete Orte, den Olympiapark, in dem er Bilder fünf Jahre den natürlichen Wandlungsprozessen der Erde aussetzte, und bei Mainburg in der Holledau die Art-Autobahn, entlang der er drei seiner Gemälde über Wochen Luft, Wind und Wetter ausgesetzt hatte. Für das dritte Projekt Wasser reiste er bis nach Miami an den Atlantischen Ozean. Dort versenkte er über einen Zeitraum von fünf Jahren Bilder in dreißig Metern Tiefe. Auf Island hängen die Bilder in einem noch brodelnden Vulkanschlund. Verschiedene Geologen passen rund um die Uhr auf, dass die Bilder nicht verbrennen. Reiter fühlt sich als Mittler zwischen den Welten, als Seismograph, der die Veränderungen in der Kunst und Natur genau wahrnimmt und anderen bewusst macht. Warum entschied er sich für Island? Dort fühlt sich Reiter den Elementen Wasser, Erde, Luft und Feuer so nah wie nirgendwo auf der Welt. „Auf der Insel sind die Kräfte der Natur in relativ geringen Entfernungen unmittelbar zu erleben.“
Feuer für eine Kunstmetamorphose auf Island
Auf Island mit seinem grandiosen Naturschauspiel befinden sich rund 200 Vulkane, von denen rund 30 zeitweise aktiv sind, heiße Quellen, Geysire und Solfataren. Häufig begleitet die vulkanische Tätigkeit Erdbeben. Zu den bekanntesten Vulkanen zählen der Hekla (1.491 m), der 1766, 1947, 1980 und 2000 ausbrach, und der nahe gelegene Laki, der ungefähr 100 verschiedene Krater aufweist. Die weiten nacheiszeitlichen Lavafelder nehmen etwa zehn Prozent der Landesfläche ein.
Die Insel liegt dem untermeerischen Mittelatlantischen Rücken auf. Die Jahrestemperatur ist ausgeglichen kühl. Island gilt als das weltweit am dünnsten bewohnte Siedlungsgebiet. Wie an den Anbeginn der Zeit zurückgeworfen, habe er sich bei seinen ersten Erkundigungen auf Lavafeldern gefühlt, erklärt Reiter. Seinen Traum, über mehrere Wochen auf der Insel drei großformatige Gemälde in einer offenen Lavaspalte der Hitze und den Dämpfen auszusetzen, verwirklicht er im Sommer 2006. Wärme und Gase arbeiten an den von Menschenhand gestalteten Bildnissen. „Der Mensch gibt ab, löst sich“ dabei von seinen Vorstellungen und übergibt, wie Reiter betont, dem natürlichen Geschehen, dem Zufall darin, die Handlungsmacht. Den Prozess versteht er als Sinnbild für den ewigen Lauf des Kommen und Gehens im Leben. Nichts kann man auf ewig festhalten, auch nicht die Kunst. „Alles fließt, panta rhei“.
Feuer in Mythologie und Philosophie
Seit Jahren beschäftigt sich Rudolf Reiter mit Vorstellungen der alten Kulturen zu den vier Elementen, mit Mythologien und Schöpfungserzählungen. So entdeckte er bei den Sumerern den Glauben, dass das Universum von einem Pantheon regiert würde, an dessen Spitze die vier Gottheiten standen: der Himmelsgott Anu, die Erdgöttin Ki, der Sturmgott Enlil und der Wassergott Enki. Himmel, Erde, Luft und Wasser, die vier Elemente, aus denen setzte sich die Welt zusammen. In der chinesischen Mythologie unter Fu-hsi, dem ersten der legendären Zehn Kaiser, wird der Erde das Hexagramm K’un zugeschrieben, als das Empfangende, die Mutter, das Weibliche symbolisierend. Rudolf Reiters Gedanken kreisen jedoch stärker um das griechische „Panta rhei“ („alles fließt“). Das berühmte Wort wird Heraklit (500 v. Chr.) zugeschrieben. Der Philosoph sah in der Natur den Wandel als grundlegendes Prinzip an, so wie es im Fließen des Wassers sichtbar wird. Aus der Sicht der heutigen Physik würde man sagen, dass nur das Fließen, die dauernde Veränderung, dem Menschen begreifbar ist. Das Element Feuer wird bei Heraklit zum Bild für das Leben als Einheit von Erfüllung und Unerfülltheit. Denn der Mensch läuft dauernd Gefahr, die größten Güter als etwas Selbstverständliches und nicht mehr als Geschenk zu erleben. „Das Feuer existiert nur dadurch, dass es, indem es etwas verbrennt, sich sättigt, es ist ständig unbefriedigt und will auf anderes übergreifen.“ (Ricken, Philosophie der Antike, 1988) Wenn man dem Feuer unterschiedliches Rauchwerk zugibt, verströmt es jeweils einen anderen Duft. Danach habe es seinen Namen. Das Feuer selbst, behauptet Parmenides, wird vom Geruchssinn nicht erfahren, aber das Räucherwerk seinen Duft nur durch das Feuer entfalten. In diesen Erscheinungen ist Gott als deren Lebenskraft innewohnend.
Andere Überlegungen lieferte der Arzt Empedokles (um 470 v. Chr.). Er ging davon aus, dass sich die dingliche Welt aus den vier Elementen Erde, Luft, Feuer und Wasser zusammensetzt. Zwei Grundkräfte, die Liebe (Freundschaft/ Anziehung) und der Hass (Streit/Abstoßung), wirken auf die Elemente ein und schenken ihnen ihre unterschiedliche Gestalt. Sein Weltbild ist dabei zyklisch: Werden und Vergehen gibt es nur bedingt. Am Weltenanfang, wo allein die Liebe existierte, waren die vier Elemente untrennbar vermischt. Erst später entstanden durch ihre Entmischung die Dinge, und dann die Pflanzen, Tiere und Menschen. Der Mensch entkommt nach Empedokles dem Schicksal ewiger Wiedergeburt nur durch asketische Reinigung. Am Ende der Welt fließt bei dem Philosophen alles wieder untrennbar zusammen. Nach dessen Ansicht war Krankheit daher vor allem eine Störung des Gleichgewichts der vier Elemente (Feuer, Wasser, Erde und Luft). Die stoische Lehre entwirft ein „künstlerisches Feuer“ als aktives Lebensprinzip. Dabei setzt die Kunst auf ihre eigenen Gesetze. Feuer kann aber, wie jedes andere Vermögen, nicht ohne Körper tätig werden. Schließlich geht einer der berühmtesten Philosophen der Antike, Aristoteles (um 350 v. Chr.), von einem endlichen, sphärischen Universum aus, in dessen Mitte sich die Erde befindet. Diese bestehe aus den vier Elementen: Erde, Luft, Feuer und Wasser. In Aristoteles’ Physik ist jedem dieser vier Elemente ein bestimmter Platz zugewiesen. Jedes bewegt sich dabei in einer natürlichen geradlinigen Bahn auf einen Ruhepunkt zu. So ergibt sich, dass irdische Bewegungen immer geradlinig sind und immer zum Stillstand kommen.
Prometheus der aufmüpfige Kulturstifter
Eine Reise in die Kulturgeschichte der vier Elemente, vorzugsweise des „Feuers“, muss an Prometheus als den mythologischen Wohltäter und aufmüpfigen Kulturstifter der Menschheit erinnern. Denn Prometheus, der Vordenker, überlistete die selbstgefällige Götterwelt und brachte das Feuer auf die Erde. Der Mythos zeigt, wie sehr die menschliche Kultur des Feuers bedarf und wie sehr sie von ihm abhängt. Denn erst der Umgang mit dem Feuer ermöglichte es dem Menschen seine gestalterischen Fähigkeiten richtig zu entwickeln. Die gewaltige Kraft des Feuers setzte den Menschen in Bewegung. Mit dem Feuer begann er Eisenwerkzeuge zu formen, Ziegel zu brennen und warme Speisen zu kochen. Bereits den Steinzeitmenschen war die Kunst Feuer zu entfachen, bekannt. Damals wie noch in späteren Zeiten wandten diese viel Zeit darauf, ein brennendes Feuer nicht verlöschen zu lassen, um es nicht neu entfachen zu müssen. Denn letzteres bedeutete viel Arbeit.
Metanoia in der Kunst und im Leben
So kam es vielleicht, dass das Feuer auch ein Symbol für Sünde, Begierde und Elend wurde. Feuerzungen kündeten im Neuen Testament vom neuen Geist der Menschen. Erkenntnis kommt bisweilen nur durch Erschrecken und so fand Rudolf Reiter nach der Feuerkatastrophe einen neuen künstlerischen Ansatz. Mit seiner Kunst füllt er die Leere, die nach dem Ausfall von Religion unter den Menschen entstanden ist. Seine Arbeit übernimmt Aufgaben der Religion, ohne sie in jedem Punkt ersetzen zu können. Wie von selbst aber drängt sich die alte philosophische Frage nach der Relation von Form und Inhalt, stiller Antrieb jeglicher künstlerischer Arbeit, wieder in die Diskussion ein. So kann aus der vulkanischen Metamorphose eine Metanoia des Betrachters erwachsen. Rudolf Reiter fasst den Wandlungsprozess zusammen: „Hinter den Farben öffnet sich das Reich des Göttlichen. Die Kunst ist ein Tor zum Himmel und zur Ewigkeit.“
Elisabeth Noske